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Wohlsein in bewegten Zeiten?! Wie sich Ausnahmezustände auf unser Nervensystem auswirken und wie wir es beeinflussen können

Bild: Ana_J | Pixabay.com

Gastbeitrag von Diplompsychologin Karin Maier aus Berlin*.

 

In diesem Gastbeitrag stellte die Körperpsychotherapeutin Karin Maier Ansätze aus der Hirnforschung vor und gibt theoretische und praktische Einblicke zu Abläufen im menschlichen Gehirn in Ausnahmezuständen.

 

Das Modell des dreiteiligen Gehirns und das Autonome Nervensystem

In der Hirnforschung bietet das Modell des dreiteiligen Gehirns Orientierung zur Verortung, das ich im Folgenden vereinfacht skizziere. Im Großhirn (Neo-Cortex) sind Logik, Sprache, Gedanken, Vorstellungsfähigkeit und problemlösendes Denken verortet. Im Zwischenhirn (Limbisches System) sind Systeme wie Erinnerungen (Hippocampus), Gefühle (Mandelkerne/Amygdalae) und Belohnung (Nucleus accumbens) beheimatet. Im Stammhirn, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns, deshalb auch Reptiliengehirn genannt, findet sich die lebensnotwendige Grundregulation.

Also: Reaktion auf Stress und Bedrohung, ein enger Bezug zu Körper und dem Autonomen Nervensystem (ANS).

 

Das Autonome Nervensystem: zwei „Partner“ mit gegenläufigen Funktionen

Unser Autonomes Nervensystem besitzt zwei Gegenspieler: Sympathicus und Parasympathicus (Polyvagal-Theorie (S. Porges, 1995)). Sympathicus lässt sich charakterisieren mit „Fight or flight“, Parasympathicus mit „Rest and digest“. Doch was bedeutet das? Der Erregungszustand unseres Nervensystems verläuft in Kurven: von einem niedrigen Niveau, aus der Entspannung zu einem höheren Niveau und wieder rücklaufend.

 

Beide Gegenspieler haben ihre Berechtigung und versetzen uns ins Handeln

Der Sympathicus wirkt hierbei als „Gaspedal“. Er steht für die Energiebereitstellung, Mobilisierung.  Adrenalin, Cortisol werden ausgeschüttet und versetzen uns in Handlungsbereitschaft. Wir sind im „Fight or flight“-Modus.

Steigt die Erregung auf dieses Niveau finden wir also Ausprägungen im Handeln wie im „Kampf“: so z.B. Hamsterkäufe, Übererregung, hohes Engagement in Social Media, allgemein eine hohe Spannung/Erregtheit im gesellschaftlichen Umgang. Oder eben Symptome von „Flucht“: ein Verdrängen, Bagatellisieren, Aussagen wie: „es ist nichts“.

 

 

Parasympathicus – unsere „Nervenversicherung“

Doch wie kommen wir wieder aus Gaspedal-Erregungszustand, dem „Fight or flight“-Modus? Hier wird der Parasymphaticus wirksam.  Unser bildliches „Bremspedal“ ist in zwei Ausprägungen wirksam. Dem ventralen und dorsalen Vagus. Der ventrale Vagus kennzeichnet einen sicheren Grunderregungszustand unseres Nervensystems. Wir sind im Gleichgewicht, geerdet, dabei aber offen und mitfühlend gegenüber unserem Umfeld, achtsam im Hier und Jetzt. Nicht umsonst steht der Parasympathicus im ventralen Vagus für Ausruhen, Entspannung, Integration. Kommt es jedoch zu einer erhöhten Erregung und der Sympathicus ist aktiv und es kommt zu keiner Abschwächung des Erregungspotenzials, kommt es zu einer Übererregung des Nervensystems. Die höchste Erregungsschwelle wird überschritten und der Parasympathicus im dorsalen Vagus wird erreicht.

 

Schockstarre – der nervliche Shut-Down

Im dorsalen Vagus ist das menschliche Gehirn im „Freeze“, einer Schockstarre, gleich einem nervlichen Shut-Down. Gefühle wie Hilflosigkeit, Scham, Gefangen-Sein, Hoffnungslosigkeit machen sich breit. Depression und eine erhöhte Schmerzunempfindlichkeit können mit diesem Zustand einhergehen. Der Mensch ist buchstäblich bewegungs- und handlungsunfähig. Dennoch ist auch dieser Zustand ein Schutzmechanismus unseres Körpers, ein Abschalten, eine letzte „Nervenversicherung“.

 

Shut-down bei hoher Übererregung

  • Abschalten/Immobilität/Erstarrung
  • Gefühl „in der Falle zu sitzen“
  • Nebel- od. Taubheitsgefühl
  • Hilflosigkeit
  • Rückzug/Unverbundenheit
  • Verlorenheitsgefühl

Diese Symptome konnten auch in der Covid-Pandemie in den ersten Wellen beobachtet werden.

*Name geändert